Winnenden (ots) –
Bis ins Jahr 1974 hatte Deutschland die höchste Säuglingssterblichkeitsrate aller westlichen Industriestaaten. Schon damals mussten die Frühchen in herkömmlichen Rettungswagen zur besseren Versorgung in Spezialkliniken transportiert werden – das ist übrigens bis heute so. Dabei sollen Frühgeborene möglichst gar nicht transportiert werden; zu groß sind die Gefahren, die etwa starke Erschütterungen während der Fahrt für das Kleine mit sich bringen.
Zu ihrem besseren Schutz, zur Vermeidung von Spätschäden bei Frühgeburten und auf Anregung der Kinderärzte des Olgahospitals und der Städtischen Kinderkliniken Stuttgart plante die gemeinnützige Björn Steiger Stiftung daher den ersten „Baby-Notarztwagen“; die Ausarbeitung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz. Am 25. Juni 1974 wurde das erste Modell in Deutschland offiziell in den Dienst gestellt.
„Der kleine Patient wird in dem Spezialrettungswagen in einem geräumigen Intensivpflegeinkubator gelagert und kann durch eine Vakuummatratze vor Erschütterungen und plötzlichen Lageänderungen während der Fahrt bewahrt werden“, schrieb die Ludwigsburger Kreiszeitung damals. Der Transport des Brutkastens sei „in dem neuen Fahrzeug wesentlich sicherer“, da er fest im Fahrzeug verankert sei, lobte die Cannstatter Zeitung das ausgeklügelte System. „Arzt und Schwester sitzen bequem und sicher hinter dem Brutkasten und haben genügend Handlungsfreiheit, um den kleinen Patienten zu überwachen und zu behandeln. Die Überwachung wird durch einen elektronischen Herzmonitor ergänzt. Der Rettungswagen ermöglicht es besser als bisher, die in den Frauenkliniken begonnene Behandlung der kleinen und kleinsten Patienten ununterbrochen fortzusetzen; er wird dazu beitragen, die Überlebenschancen der Kinder zu verbessern und besonders Spätschäden zu vermeiden“, jubelte das Blatt am 26. Juni 1974.
Baby-Notarztwagen auch in Nordrhein-Westfalen
Oktober 1975, Ortswechsel: Bei Recklinghausen in Nordrhein-Westfalen kommt der kleine Jochen zur Welt, sein Blut ist übersäuert. Ein Feuerwehrmann bringt den Kleinen in einer Tragetasche und ohne ärztliche Begleitung in die Klinik nach Datteln; von dort aus wird er per Hubschrauber in die Klinik nach Düsseldorf geflogen. Doch der Junge wird nur eine Woche alt – eine echte Chance hatte er nie.
Jahrzehnte lang verwindet sein Vater Herbert Wiethoff den Tod seines Sohnes nicht – nimmt ihn aber ähnlich wie das Ehepaar Ute und Siegfried Steiger nach dem vermeidbaren Tod ihres Sohnes Björn zum Anlass, um etwas für die Verbesserung der medizinischen Versorgung in Deutschland zu tun. Unermüdlich und über zwei Jahrzehnte hinweg sammelt er als ehrenamtlicher Landesbeauftragter des damaligen Rettungsdienstes Björn Steiger 700 000 Mark, nutzt seine guten Kontakte zum damaligen VW-Chefkonstrukteur in Wolfsburg und luchst diesem einen VW-Bus als Rohling ab. „Den haben wir mit einigen medizinischen Geräten ausgerüstet und erste Erfahrungen gesammelt“, erinnert sich Wiethoff.
Am 8. September 1979 war es dann soweit: Die Kinderklinik in Datteln erhielt ihren ersten Baby-Notarztwagen. Nur wenige Stunden nach der offiziellen Übergabe rettete genau dieses Fahrzeug dem ersten Kind das Leben: Die kleine Karin aus Herten kam in der 34. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von 1350 Gramm zur Welt und wurde im Baby-Notarztwagen in eine Klinik gebracht. „Sie wäre ansonsten sicherlich gestorben“, so Wiethoff. Auch der kleine Andy aus Recklinghausen kam damals nicht mit den besten Bedingungen auf die Welt: Der Junge wog bei seiner Geburt gerade einmal 635 Gramm und überlebte nur dank schneller medizinischer Hilfe in der richtigen Klinik. „Ich hatte ihn selbst auf dem Arm“, sagte Herbert Wiethoff damals. „Das vergesse ich nie.“ Alleine die beiden ersten Baby-Notarztwagen der Kinderklinik Datteln fuhren in den ersten 17 Jahren mehr als 12 000 Einsätze und retteten so das Leben unzähliger Babys.
Kontinuierliche Weiterentwicklung
In den 50 Jahren seit der ersten Indienststellung 1974 wurde das System kontinuierlich auch in enger Kooperation mit der Lübecker Firma Drägerwerk weiterentwickelt; seit dem Jahr 2012 ist die fünfte Generation des Baby-Notarztwagens mit dem Namen „Felix“ – benannt nach dem Schutzpatron für Schwangere und Kleinkinder, Felix von Cantalice – auf Deutschlands Straßen unterwegs und hat alleine im Jahr 2023 mehr als 300 Frühchen schonend in Spezialkliniken transportiert.
Das Fahrzeug verfügt über ein spezielles Dämpfungssystem für einen ruhigen, erschütterungsfreien Transport und gleicht Schlaglöcher einer Tiefe von bis zu 10 Zentimetern aus. Das Rückhaltesystem „Traveller RS“ sichert das Baby zusätzlich, während der Transportinkubator „AirBORNE – AVIATOR“, bis zu zwölf Perfusoren, zwei Sauerstoffflaschen und eine eigene Stromversorgung für die bestmögliche Versorgung während der Fahrt sorgen. Zudem werden die Babys nicht – wie in herkömmlichen Rettungswagen – längs zur Fahrtrichtung transportiert, sondern quer. Somit ist auch das Köpfchen der Kleinen mit noch offener Fontanelle besser geschützt als bei einem Längs-Transport.
Eine Mutter, deren Kind vor sieben Jahren vom Baby-Notarztwagensystem der Björn Steiger Stiftung in Stuttgart profitierte, ist Julia Köstlin. Gerade einmal 1150 Gramm brachte ihre Tochter Valerie bei der Geburt auf die Waage; die Kleine musste in der 28. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt geholt werden. Zwei Mal musste das Frühchen innerhalb der ersten fünf Tage operiert werden – und in die Spezialklinik wurde es jeweils mit dem Baby-Notarztwagen transportiert. „Da haben uns ganz viele Engel begleitet“, sagt die dreifache Mutter heute.
Auch Prof. Dr. Neysan Rafat hält das Baby-Notarztwagensystem für eine überaus wichtige Einrichtung. „Diese spezialisierten Rettungsfahrzeuge sind mit modernster medizinischer Technik ausgestattet, die speziell auf die Bedürfnisse von Neugeborenen und Säuglingen abgestimmt sind. Durch diese Ausstattung und die Expertise der mitfahrenden Ärzte und Pflegekräfte können lebensbedrohliche Zustände bei Babys schnell und effektiv behandelt werden“, sagt der Ärztliche Direktor der Neonatologie im Olgahospital des Klinikums Stuttgart. Der Baby-Notarztwagen ermögliche eine schnelle Reaktion des medizinischen Teams und den schonenden Transport zu spezialisierten Einrichtungen. „Mit Hilfe von ‚Felix‘ können viele Leben gerettet und die Chancen auf eine schnelle Genesung erhöht werden“, betont der Mediziner.
Bis heute wird der Baby-Notarztwagen – ein Fahrzeug kostet etwa 300 000 Euro – durch Spenden und Sponsoren über die Björn Steiger Stiftung finanziert; noch immer ist jenes Fahrzeugsystem nicht im Rettungsdienstgesetz verankert.
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