Moers (ots) – Können Krankheiten wie Corona, Herzinfarkt oder Diabetes bald nicht mehr diagnostiziert werden? Eine neue EU-Richtlinie fordert von den Herstellern von Schnelltests und Labormaterialien alle Produkte neu zuzulassen. Der Aufwand ist für die Medizintechnik-Unternehmen dermaßen groß, dass viele schon jetzt ihr Produktportfolio zusammenstreichen, sagt Roland Meißner, Geschäftsführer der nal von minden GmbH aus Moers. Daher müsse unbedingt jetzt gehandelt werden – bevor viele In-vitro-Diagnostika vom Markt verschwinden! Roland Meißner beantwortet die wichtigsten Fragen zur EU-Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR).
Worum geht es bei der neuen EU-Richtlinie denn genau?
Meißner: Bei der neuen EU-Richtlinie geht es um Produkte wie Schnelltests, PCR-Tests und Labortests. Diese In-vitro-Diagnostika spielen eine große Rolle bei der Diagnose von Krankheiten und werden täglich in Arztpraxen, aber auch in Krankenhäusern eingesetzt. Die neue EU-Richtlinie für In-vitro-Diagnostika (IVDR) soll nun dafür sorgen, dass Medizinprodukte sicherer werden – im Interesse aller Bürger. Es müssen alle Produkte nach strengeren Kriterien neu geprüft und neu zugelassen werden. Anlass für die IVDR war der Skandal um die Brustimplantate. Daher sind wir als Medizintechnik-Unternehmen nal von minden auch grundsätzlich für die neue Richtlinie, jedoch ist der anvisierte Zeitplan nicht einzuhalten.
Wie sieht denn der genaue Zeitplan aus?
Meißner: Bis Mai 2022 müssen alle Produkte aus dem Bereich In-vitro-Diagnostik neu zugelassen werden. Das sind Tausende von Produkten, die bei der Diagnose von Diabetes, Herzinfarkt, Krebs und vielen anderen Erkrankungen wichtig sind. Die EU-Richtlinie betrifft nicht nur Produkte deutscher Hersteller, sondern gilt für alle Hersteller von In-vitro-Diagnostika, die ihre Produkte in Europa anbieten wollen.
Warum ist das Thema gerade jetzt so aktuell? Bis Mai 2022 ist doch noch Zeit……
Meißner: Das Thema ist jetzt brandaktuell, weil viele Hersteller von In-vitro-Diagnostik gerade ihr Produktportfolio radikal zusammenstreichen. Da die Hersteller wissen, dass es zeitlich gar nicht mehr zu schaffen ist, alle Produkte zuzulassen, überlegen sie, für welche Produkte es sich lohnt… Allein wir bei nal von minden haben über 100 verschiedene Schnelltests und Geräte im Portfolio. Die können wir nicht bis Mai 2022 alle zulassen. Das ist nicht zu schaffen.
Warum ist das nicht zu schaffen?
Meißner: Viele Medizintechnikunternehmen wie auch nal von minden haben in den vergangenen Monaten ihre gesamten Kräfte für die Bekämpfung der Coronapandemie gebündelt. Wir haben unsere Produktion enorm hochgefahren, um die notwendige Anzahl an Corona-Schnelltests zu produzieren. Im Übrigen gibt es auch nicht genug sogenannte Benannte Stellen, die die Produktprüfungen entsprechend der neuen EU-Richtlinie vornehmen müssen. Leider sind momentan europaweit für alle Hersteller, die in Europa In-vitro-Diagnostika vertreiben wollen, lediglich drei Benannte Stellen am Start.
Nur drei Prüfungsstellen für alle Hersteller in Europa?
Meißner: Ja, das liegt auch an Corona. Wegen der Pandemie und der damit verbundenen Reiseeinschränkungen konnten bisher keine weiteren Benannten Stellen zugelassen werden. Damit eine Prüfungsstelle als Benannte Stelle der EU zertifiziert werden kann, müssen selbst Prüfer kommen und sich alles vor Ort anschauen. Das ist natürlich auch sinnvoll, damit Qualitätskriterien eingehalten werden. Bis dahin gibt es aber weiter nur die drei Benannten Stellen für alle Hersteller von In-vitro-Diagnostik in Europa.
Wie lange dauert denn eine Produktprüfung?
Meißner: Allein für die über 100 Produkte der nal von minden GmbH, die einer Anmeldung nach der IVDR bedürfen, wären im besten Fall über 100 Wochen notwendig, denn pro Produkt veranschlagt die Benannte Stelle jeweils mindestens eine Woche. Dies ist bis Mai 2022 kaum zu bewerkstelligen. Und wie gesagt sind wir ja nicht das einzige Unternehmen, das In-vitro-Diagnostik produziert.
Was passiert mit Produkten, die nicht rechtzeitig neu zugelassen werden?
Meißner: Laut der neuen EU-Richtlinie für In-vitro-Diagnostika dürfen die Hersteller ab Mai 2022 diese Produkte nicht mehr produzieren. Es dürfen nur Produkte, die bereits produziert sind und irgendwo gelagert werden noch bis zum Verfallsdatum weiterverkauft werden. Das Ende einer Produktlinie, die nicht nach IVDR zugelassen ist, ist somit absehbar. Es wird Produktengpässe geben, einige Produkte werden komplett vom Markt verschwinden.
Warum werden Produkte vom Markt verschwinden?
Meißner: Da der Zeitplan nicht einzuhalten ist, wird sich jeder Hersteller überlegen, welche Produkte am wichtigsten sind. Dies sind in der Regel natürlich Produkte, die den meisten Umsatz bringen, denn jedes Unternehmen muss wirtschaftlich weiter überleben und Arbeitsplätze sichern. Es handelt sich dabei vor allem um Diagnostika für sehr häufige Krankheiten. Die Gefahr besteht, dass Produkte für die Diagnose seltener Erkrankungen erst verspätet oder sogar gar nicht mehr zugelassen werden, weil es sich wirtschaftlich für das Unternehmen nicht mehr lohnt. Man darf nicht vergessen, dass die jetzt notwendige Neuzulassung auch finanziell ein enormer Kraftakt ist.
Betrifft das alle Unternehmen in Europa?
Meißner: Alle, die In-vitro-Diagnostik herstellen. Je kleiner das Unternehmen ist, desto schwieriger wird es vermutlich werden. Einige Hersteller werden im schlimmsten Fall ihr Portfolio extrem stark kürzen, um wirtschaftlich überleben zu können. Für große Konzerne wird es hingegen wohl kein Problem sein. Eine Verlängerung der IVDR ist daher besonders für die KMU in Deutschland und Europa wichtig.
Bis wann sollte die IVDR im Idealfall verlängert werden?
Meißner: Optimal wäre eine Verlängerung um ein Jahr. Dann haben die Unternehmen mehr Zeit und es können auch mehr Benannte Stellen zugelassen werden. Im Übrigen sollte für alle Unternehmen gleiches Recht gelten. Denn im vergangenen Jahr wurde – bedingt durch die Corona-Krise – die Übergangsfrist für Medizinprodukte nach MDR (Medical Device Regulation, z.B. Herzschrittmacher) um ein Jahr verlängert.
Unternehmensinformation
Die nal von minden GmbH. Die nal von minden GmbH in Moers ist seit 38 Jahren Spezialist auf dem Gebiet der medizinischen Diagnostik. Das Portfolio umfasst Schnelltests und Labortests für verlässliche Diagnosen innerhalb der Bakteriologie, Kardiologie, Gynäkologie, Infektionskrankheiten, Urologie und Toxikologie. Die nal von minden GmbH hat insgesamt rund 230 Mitarbeiter an 9 europäischen Standorten. www.nal-vonminden.com
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