Dienstag, März 19, 2024

Wie kommen wir durch die vierte Welle? / Interview mit Dr. Bernhard Leben von H.i. Competence

Gelsenkirchen (ots) –

Die Corona-Infektionszahlen haben zum Ende des Sommers 2021 wieder deutlich angezogen, gleichzeitig macht sich zusehends eine Impfmüdigkeit unter den Bürgerinnen und Bürgern breit, weshalb viele Mediziner/innen inzwischen vor eine „vierten Welle“ warnen, welche das Gesundheitssystem im Herbst und Winter abermals unter Druck setzen könnte. Es wird daher diskutiert, welche Maßnahmen für die kommenden Monate zu ergreifen sind – Restriktionen für Ungeimpfte oder auch neue Kontaktbeschränkungen werden dabei nicht ausgeschlossen.

Dr. Bernhard Leben ist Spezialist für Präventionsmedizin sowie als ärztlicher Leiter und Mitglied der Geschäftsführung bei der H.i. Competence Group in Gelsenkirchen unter anderem für die Schulung der Mitarbeiter/innen in den bundesweiten Corona-Testzentren von H.i. Competence zuständig. Im folgenden Gespräch räumt er mit verbreiteten Missverständnissen zu den Corona-Maßnahmen auf, erläutert, was die vierte Welle von den drei Vorangegangenen unterscheidet, und richtet einen eindringlichen Appell an alle bislang noch Ungeimpften.

Sehr geehrter Herr Dr. Leben, seit März 2020 leben wir nun mit mehr oder weniger starken Restriktionen, welche die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen sollen. Sogenannte „Querdenker“ und Corona-Skeptiker argumentieren häufig, die Zahl der Todesfälle durch SARS-CoV-2 sei im Vergleich zu anderen verbreiteten Volksleiden verschwindend gering, die getroffenen Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Abstandsregeln und Maske Tragen daher unnötig und überzogen. Eine stichhaltige Argumentation?

Leben: In absoluten Zahlen betrachtet mag das sogar zutreffen. Allein im Jahr 2019 sind in Deutschland rund 330.000 Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben und rund 235.000 an Krebs. Dagegen nehmen sich die bislang ca. 93.000 an oder mit COVID-19 gestorbenen Patient/-innen auf den ersten Blick gering aus. Der springende Punkt ist aber ein ganz anderer: Die besondere Brutalität dieser Pandemie ergibt sich durch die Geschwindigkeit, mit der die an COVID-19 Erkrankten über das Gesundheitssystem gekommen sind und in kürzester Zeit die Intensivstationen gefüllt haben. Es ist dieser Ansturm, der die Gesundheitsversorgung an die Belastungsgrenze getrieben und Patient/-innen mit anderen Erkrankungen immer mehr aus dem Tagesgeschäft der Kliniken gedrängt hat. Die Leidtragenden der Pandemie waren also mitnichten nur die direkt an COVID-19 Erkrankten, sondern gerade auch die vielen hunderttausend Patient/-innen mit anderen Erkrankungen.

Im Übrigen hatten und haben die getroffenen Maßnahmen durchaus einen ganz konkreten Einfluss auf die Eindämmung der Pandemie. Nehmen Sie die Kontaktbeschränkungen: Die Ständige Impfkommission (STIKO) schätzt, dass ein Mensch vor der Pandemie im Schnitt 15 bis 17 Kontakte pro Tag hatte. Entsprechend schnell konnte sich das Virus zu Beginn der Pandemie verbreiten. Aktuell wird diese Zahl dagegen auf unter elf Kontakte geschätzt. Das ist immer noch eine vergleichsweise hohe Zahl, doch es sind immerhin fünf Kontakte pro Person weniger. Und wenn es sich durch Maßnahmen wie 3G bei diesen fünf genau um diejenigen handelt, die nicht geimpft sind oder deren Infektionsstatus unbekannt ist, während die übrigen elf geimpft, genesen oder getestet sind, hat das natürlich einen ganz erheblichen Einfluss darauf, wie schnell sich das Virus verbreiten kann.

Auch das Maskentragen spielt bei der Unterbrechung von Infektionsketten eine ganz wesentliche Rolle. Was die Wenigsten wissen: Wenn Sie kräftig husten, entweicht die Luft mit bis zu 200 km/h aus Ihrem Rachen, beim Niesen sind es sogar bis zu 500 km/h. Ein Kubikmeter Atem kann bis zu 16.000 Viren enthalten, und wenn Sie die mit den genannten Geschwindigkeiten in einem geschlossenen Raum verschießen, in dem die Menschen womöglich noch eng beieinandersitzen, stehen oder tanzen, können Sie sich vorstellen, wie schnell dieser Raum ohne das Tragen von Masken durchseucht wäre.

All dies muss man den Menschen immer wieder vor Augen führen – ich tue dies regelmäßig bei den Mitarbeiter/-innen, die ich für unsere Testzentren schule – aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit diese Tatsachen auch in der breiten Bevölkerung bekannt sind. Aufklärung ist für mich daher das A und O in der Pandemiebekämpfung.

Die aktuelle Situation mit zuletzt wieder deutlich gestiegenen Infektionszahlen weckt Erinnerungen an das vergangene Jahr, als die Zahlen im August und September erst langsam stiegen und im Oktober dann förmlich explodierten, ein abermaliger Lockdown war die Folge. Droht sich dieses Szenario nun zu wiederholen?

Zunächst einmal war der sogenannte Lockdown während der ersten drei Wellen, so verheerend er auch für die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben gewesen sein mag, absolut notwendig, um durch die eben beschriebenen Kontaktbeschränkungen die hohen Infektionszahlen wieder auf ein für das Gesundheitssystem verkraftbares Maß herunterzudrücken. Nun, zu Beginn der vierten Welle, ist die Situation jedoch eine ganz andere, da erstmals seit Beginn der Pandemie Impfstoffe für große Teile der Bevölkerung bereitstehen und die oberen Altersklassen, die in den vorherigen Wellen vorrangig betroffen waren, inzwischen weitgehend durchgeimpft sind. Die Impfstoffe bieten zwar „nur“ einen 95- bis 97-prozentigen Schutz gegen eine Infektion. Aber sie reduzieren doch in ganz erheblichem Maße das Risiko von schweren Krankheitsverläufen, die schlimmstenfalls auf die Intensivstation oder gar zum Tod führen.

Mit der vierten Welle trennt sich daher nun in gewissem Sinne die „Spreu vom Weizen“, denn bei den Menschen, die nun auf die Intensivstationen kommen, handelt es sich fast immer um Ungeimpfte – und die werden leider verheerend krank. Das ist auch der Grund, weshalb die STIKO die Belegung der Intensivbetten als neues Kriterium zur Bewertung der Pandemielage herangezogen hat, da die Inzidenz allein nur noch wenig Aussagekraft besitzt. Wir haben es nun im Wesentlichen mit einer Pandemie der Ungeimpften zu tun.

Welche Rolle spielt die Delta-Variante, welche inzwischen auch in Deutschland dominiert, für den weiteren Verlauf der Pandemie?

Die Delta-Variante ist infektiöser als vorherige Virus-Varianten und verursacht bei Infizierten eine höhere Viruslast. Während die Geimpften für das Delta-Virus weitgehend „uninteressant“ sind, kann es sich bei den Ungeimpften jedoch umso ungehemmter austoben. Das bedeutet, dass wir gegenwärtig nicht nur eine Impflücke haben, sondern mit steigender Impfquote auch einen immer stärkeren Selektions- und Mutationsdruck auf das Virus und damit die Gefahr, dass weitere, womöglich noch ansteckendere Varianten als Delta entstehen. Umso wichtiger ist es, die vorhandene Impflücke möglichst rasch weiter zu schließen. Daher waren es sehr erfreuliche Nachrichten, dass sich die STIKO für die Impfung von zwölf- bis siebzehnjährigen Jugendlichen ausgesprochen und BioNTech zudem aktuell eine Impfung für Fünf- bis Elfjährige in Aussicht gestellt hat, da dies wieder einen weiteren Teil der Impflücke schließt. Mit dieser Ausgangslage wären wir prinzipiell durchaus im Stande, die vierte Welle im Herbst zu brechen. Sie wird aber leider gehalten von all jenen, die ich mal diplomatisch als „Impfuneinwillige“ bezeichnen möchte.

Was bedeutet das für die Beibehaltung der Corona-Maßnahmen in nächster Zeit?

Natürlich wirft das Stocken der Impfkampagne die Frage auf, wie wir es in den kommenden Monaten mit den Hygieneregeln halten wollen – sprich, setzen wir im öffentlichen Leben auf 3G (geimpft, genesen, getestet) oder auf 2G (nur geimpft oder genesen). Ich kann nachvollziehen, dass dies für die verantwortlichen Politiker/innen ein echtes Dilemma ist. Einerseits könnten sie mit einer 2G-Regelung durch gesellschaftlichen Druck darauf hinwirken, die Impflücke weiter zu schließen und damit langfristig auch das „Schlupfloch“ zur Entstehung weiterer Virusvarianten zu schließen. Andererseits leben wir in einem demokratischen Land, das allen Menschen die gleichen Freiheitsrechte und Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe gewähren soll, weshalb die Politik mithilfe eines tagesaktuellen Negativtests auch denjenigen, die (noch) nicht geimpft sind oder sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können, eine Möglichkeit zur Teilhabe bieten will. So sehen das auch viele Vertreter/innen etwa im Hotel- und Gastgewerbe, auch wenn sie mit 3G aufgrund der geltenden Abstandsregeln keine so eine hohe Auslastung fahren können wie mit 2G. Auch wenn das Aus für die kostenlosen Bürgertests ab Mitte Oktober bereits beschlossene Sache ist, gehe ich daher davon aus, dass es auch darüber hinaus in geringerem Umfang weiterhin kostenlose Testangebote etwa für Schwangere, Gehandicapte oder aus anderen medizinischen Gründen nicht impffähige Menschen geben wird.

Letzten Endes führt die Diskussion jedoch immer wieder dahin zurück, dass wir alle, die noch ungeimpft sind, obwohl sie sich impfen lassen könnten, irgendwie erreichen müssen, um sie dazu zu bewegen. Das ist schlichtweg eine Frage des Gemeinwohls, den je mehr Menschen geimpft sind, desto besser schützen wir auch diejenigen, die sich aktuell noch nicht impfen lassen können. Meiner Meinung führt hier an unermüdlicher Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit kein Weg vorbei.

Was ist Ihr Ratschlag an die Politik, aber auch an die Bürgerinnen und Bürger, um uns sicher durch den Herbst und Winter zu bringen?

Wir sind gut beraten, auch weiterhin vorsichtig zu bleiben. Ich halte im Wesentlichen drei Dinge für geboten: Aufklärung, Abstand, Impfen. Aufklärung meine ich in dem Sinne, ein Verständnis dafür zu schaffen, wie eine Pandemie funktioniert und weshalb eine Impfung schlicht ein Gebot der Vernunft und Sinnhaftigkeit ist, so wie auch früher schon eine Grippeschutzimpfung eine Selbstverständlichkeit war. Mit Abstand meine ich neben den bekannten 1,5 Metern und dem Maskentragen auch so simple Dinge, wie sich regelmäßig die Hände mit Seife zu waschen, was gegen das Coronavirus übrigens ausgezeichnet wirkt. Solche grundlegenden Verhaltensregeln sollten vom Staat auch in der Öffentlichkeit im wörtlichen Sinne „plakativ“ immer wieder und wieder ins Bewusstsein der Menschen gerückt werden. Und dass auf dem Weg aus der Pandemie an einer ausreichend hohen Impfquote kein Weg vorbeiführt, brauche ich an dieser Stelle nicht weiter zu erläutern, wobei mit Blick auf die Schulen gerade auch die erwähnten Impfangebote für Kinder und Jugendliche einen großen Unterschied machen würden. Wenn wir als Gesellschaft diese drei Dinge zusammennehmen und befolgen, bin ich hoffnungsvoll, dass wir als Gesellschaft einen guten „Wellenbrecher“ gegen die vierte Welle haben werden. Und positiv in die Zukunft blicken können – negativ ist das neue positiv, wie sich bei unserem Tests immer wieder gezeigt hat.

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