München (ots) –
Die gute Nachricht zuerst: Mindestens zwei Drittel aller Psychotherapien verschaffen deutliche Besserung bis hin zur Heilung. Jürgen Margraf, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum, verweist dabei auf eine genaue Diagnose und passende Behandlung. Allerdings helfe die Behandlung weniger als zehn Prozent der Patienten gar nicht. Für diese Betroffenen kann das Narkosemittel Ketamin ein letzter Behandlungsansatz zur Unterstützung und Ergänzung psychotherapeutischer Maßnahmen sein, falls diese Klienten sonst austherapiert sind. Nur in diesen Fällen würden die Krankenkassen die Kosten der Ketamin-Behandlung übernehmen, insofern der Einsatz von Ketamin Erfolg verspricht. Unbedingt muss dies von einem Anästhesisten vorbereitet und begleitet werden. Besonders hilfreich ist die Gabe von Ketamin, wenn zeitnah in psychotherapeutischen Sitzungen die erhöhte Neuroplastizität des Gehirns zum Erlernen neuer positiver Gedankenmuster genutzt werden kann.
Ein Beispiel:
Klaus K. hat in seiner Kindheit viel Gewalt erlebt. Bis heute leidet der 69-Jährige an Panikattacken und Depressionen. Er fühlt sich oft traurig und würde die Welt gern mit anderen Augen sehen. Eine jeweils dreijährige Verhaltenstherapie und Gestalttherapie verbesserten sein Wohlbefinden nur wenig. Ein paar Monate lang reiste der Musiklehrer im Ruhestand aus seiner Heimat Osnabrück regelmäßig nach Berlin, wo er in einer Tagesklinik eine durch Ketamin unterstützte Psychotherapie in fünf Sitzungen erlebte.
Der Patient Klaus K. habe Zugang zu traumatischen Erfahrungen bekommen, der vorher nicht da gewesen sei. In der letzten Sitzung habe er schließlich die Erfahrung gemacht, wie es sich anfühlt, anzukommen, und ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme gespürt. Er wertet für sich die Ketamin-gestützte Psychotherapie als Erfolg. *
Forschungsgeschichte von Ketamin
Das Narkosemittel Ketaminchlorid wurde in den 1960er Jahren entwickelt. Professor Edward F. Domino, Klinischer Pharmakologe an der US-amerikanischen Universität Michigan, entdeckte das psychedelische Potenzial der synthetischen Substanz. Ketamin steht auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der WHO (World Health Organisation) und wird vor allem in der Notfallmedizin angewendet. In Deutschland forscht die Berliner Charité-Klinik zum Einsatz von Ketamin und anderen psychedelischen Mitteln bei psychischen Erkrankungen.
Möglichkeiten von Ketamin-gestützter Therapie
Der Einsatz von Ketamin bei Psychotherapie ist nicht verboten, jedoch nur im „Off-Label-Use“ möglich. Das bedeutet, dass Ketamin nicht als Medikament für psychotherapeutische Anwendungen zugelassen ist. Zwingend muss bei der Ketamin-Gabe per Infusion ein Anästhesist die Therapie vorbereiten, vorab die sonstige Einnahme von Medikamenten prüfen, das Mittel verabreichen und die therapeutischen Phasen von geschultem Personal begleiten lassen.
Krankenkassen übernehmen die hohen Kosten einer Ketamin-gestützten Therapie nur in den sehr seltenen Ausnahmefällen, bei denen der Patient beziehungsweise die Patientin als austherapiert gilt. Das bedeutet, dass zuvor bereits alle anderen psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlungsoptionen erfolglos ausgeschöpft wurden und die Ketamin-Gabe als letzte mögliche Behandlungsform eine Besserung verspricht.
Es gibt zwei Darreichungsformen von Ketamin: Infusion und Nasenspray. Die eine Überwachung der Patient:innen erfordernde Infusion gilt als wirksamer. Diese hohen Anforderungen sind ein Erklärungsansatz dafür, dass es in Deutschland nur wenige psychotherapeutische Praxen oder Kliniken gibt, die Ketamin-gestützte Therapie anbieten.
Psychotherapie mit Ketamingabe
Ketamin wirkt zum einen kurz- bis mittelfristig stimmungsaufhellend. Dadurch können – je nach Patientenlage – auch suizidale Tendenzen aufgefangen werden.** Schwere Depressionen können so unterstützend therapiert werden. Zum anderen kann Ketamin zu dissoziativen Zuständen und Wachträumen führen. Der Proband kann sich von seiner sonstigen kompakten Eigenwahrnehmung getrennt fühlen, das betrifft das Körpergefühl, Denken und / oder Handeln. Genau diese Abtrennung bietet dem Patienten in einer geführten Therapie den Zugang zu sonst Verdrängtem: Verschüttete Erinnerungen oder beispielsweise Missbrauch-Situationen werden zugänglich.
Auch können neuronale Verknüpfungen, die negativ beziehungsweise dysfunktional sind, quasi durch neue Nervenverbindungen überschrieben werden. Das ist möglich, weil Ketamin bestimmte Glutamat-Rezeptoren blockiert und das Gehirn dann Neues schaffen kann. Interessanterweise schafft die Ketamin-Gabe auch Klarheit beziehungsweise eine entspannte Selbstwahrnehmung, Dankbarkeit und positive Gefühle werden dadurch vermehrt möglich. Dadurch können Patienten mit sich selbst Frieden schließen und zuversichtlich ihre jeweiligen Lebensthemen in therapeutischer Begleitung aktiv angehen.
Risiken bei Ketamingabe
An sich ist Ketamin in kürzerer Behandlung nicht suchterzeugend und sehr gut verträglich. Bei manchen Patienten kann aufgrund der ungewohnten dissoziativen Zustände oder auch Trancen Angst entstehen. Zur Vorbereitung auf diese Erfahrungen ist eine umfassende Aufklärung des Patienten vor der Therapie ist nötig.
Grundsätzlich dürfen Menschen, die unter einer Psychose leiden, nicht mit Ketamin behandelt werden. Ebenfalls gilt dies für Patienten mit zu hohem Blutdruck, Herzleiden, nach einem erlittenen Schlaganfall sowie einer unbehandelten Schilddrüsenüberfunktion.
Ketamin darf nie ohne ärztliche Begleitung genutzt werden. Eine Langzeiteinnahme ist bei einer geplanten Therapie ohnehin nicht möglich. Bei Missachtung dieses Rats wird auf mögliche urologische Probleme hingewiesen.
Fazit
Für Menschen, die mit anerkannten zugelassenen Therapiemethoden gegen Depressionen, Ängste oder Traumata sowie weiteren tiefenpsychologischen Diagnosen keinen dauerhaften Behandlungserfolg erzielen konnten, ist diese kostenintensive „Off-Label-Use“-Therapie ein möglicher Ausweg. Auch wenn diese Behandlungsform vergleichsweise aufwändig ist und nur in Spezial-Praxen mit Anästhesie-Einsatz durchgeführt werden darf, zeigen bisher verfügbar Erfahrungsberichte, dass auch hiermit keine sofortige und dauerhaft gleichbleibende Besserung garantiert ist, sondern häufig mehrere Behandlungszyklen nötig werden können.
Lesen Sie unser Dossier zu Ketamin:
https://www.therapie.de/psyche/info/therapie/ketamin/artikel/
Ergänzend dazu empfehlen wir:
Dossier Angst und Angststörungen
https://www.therapie.de/psyche/info/index/diagnose/angst/artikel/
Test Suchtverhalten
https://www.therapie.de/psyche/info/test/sucht-tests/einstiegsseite/
*Quellenhinweis: Das Fallbeispiel wurde der Sendung DER TAG in Berlin & Brandenburg, 05.04.2024, 18:00 Uhr, rbb24, entnommen.
**Für Menschen, die sofort psychologische Hilfe benötigen:
https://www.telefonseelsorge.de/sorgen-themen/suizidpraevention/
Telefon 0800.1110111 oder 0800.1110222 sowie
https://www.telefonseelsorge.de/chat/
Für junge Menschen, die Hilfe brauchen: https://krisenchat.de/
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Quelle: ots