Gießen (ots) –
Als Pilotversuch gestartet, hat sich das Forensische Konsil Gießen (FoKoGi) am Institut für Rechtsmedizin am UKGM (https://www.ukgm.de/ugm_2/deu/ugi_rec/index.html) längst zu einem bundesweiten Vorzeigeprojekt entwickelt. Opfer von Gewalttaten können hier erlittene Verletzungen von Rechtsmedizinern vertraulich dokumentieren und Beweise sichern und archivieren lassen, für den Fall, dass sie den oder die Täter später anzeigen wollen. Diese vertrauliche Spurensicherung kann dann für spätere Ermittlungen oder ein Gerichtsverfahren ausschlaggebend sein. Das Angebot ist kostenfrei und wird vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration finanziert.
Ein kleiner Junge sitzt im Behandlungszimmer und zeigt auf die Blutergüsse an seinem Körper. Während die Spuren der Misshandlung untersucht, vermessen und fotografiert werden, erzählt er, dass sein Stiefvater ihn geschlagen hat. „Das darf der aber nicht!“ erklärt der Siebenjährige dann mit fester Stimme. Eine Geschichte, die dem Leiter des Gießener Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum in Gießen, Prof. Reinhard Dettmeyer, im Gedächtnis geblieben ist: „Der Junge war klasse, er war selbstbewusst und trotz der Gewalt, die er erfahren hatte, nicht eingeschüchtert oder gebrochen. Da hat man dann zumindest die Hoffnung, dass er die Geschehnisse wird verarbeiten können.“
Täter kommen zumeist aus dem häuslichen, familiären Umfeld
Mit 40 Fällen pro Jahr war das Forensische Konsil Gießen vor 10 Jahren gestartet, mittlerweile hat sich die Zahl der Konsultationen fast verzehnfacht. In mehr als der Hälfte der über 350 Fälle pro Jahr, bei denen das FoKoGi zu Rate gezogen wird, sind Kinder und Jugendliche von 0 bis 18 Jahren betroffen. Wiederum rund die Hälfte von ihnen ist unter 10 Jahre alt. Es geht um körperliche Gewalt, um sexuellen Missbrauch, um Spuren von Vernachlässigung. Die Rechtsmediziner dokumentieren zumeist Folgen von sogenannter stumpfer Gewalt wie Schütteltraumata bei Säuglingen, Blutergüsse, Knochenbrüche oder offene Wunden durch Schläge, Tritte oder herbeigeführte Stürze, aber auch Spuren von thermischer Gewalt wie Verbrennungen oder Verbrühungen durch heißes Wasser. Dazu kommen verschiedenste Verletzungen durch sexuelle Gewalt. Die Taten finden meist im familiären oder häuslichen Umfeld statt.
Ähnlich sieht es bei betroffenen Erwachsenen aus. Auch hier entstehen die meisten Verletzungen durch stumpfe Gewalt, dann aber gefolgt von Stichverletzungen, Würgemalen, sexueller Gewalt und Schussverletzungen. Auch hier kommen die Täter aus dem sogenannten Nahfeld des Opfers also Partner, Ex-Partner, Familienangehörige, Verwandte, Freunde oder Kollegen. Neben den Betroffenen selbst, suchen hier Kliniken, Frauenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Arztpraxen und Jugendeinrichtungen Rat beim FoKoGi.
Wenn Kinder sichtbare körperliche Verletzungen haben, sind es neben Elternteilen oft Kinderärzte, Klinikärzte, Jugendämter aber auch Lehrer, die darauf aufmerksam werden und dann das FoKoGi in Anspruch nehmen. Hier soll zunächst vertraulich und ohne offizielle Anzeige geklärt werden, ob die Spuren auf körperliche Gewalt, Unfälle oder besondere Erkrankungen zurück zu führen sind. Es ist eine akribische medizinische Detektivarbeit, die die Experten der Rechtsmedizin leisten müssen. Neben der spezialisierten Ausbildung spielt auch die Erfahrung eine wichtige Rolle, denn nicht immer ist alles ganz einfach schwarz-weiß in Opfer und Täter einzuteilen, betont der Rechtsmediziner Dettmeyer: „Wir hatten mal einen Fall, da lag ein Siebenjähriger schon auf dem OP-Tisch in der Kinderklinik für eine geplante Operation. Dem Narkosearzt fiel auf, dass der Junge ungewöhnlich viele blaue Flecken hatte und der Verdacht von Misshandlung stand im Raum. Wir konnten dann feststellen, dass das Kind eine Blutgerinnungsstörung hatte, die für die blauen Flecken verantwortlich war. Also einerseits Entwarnung, andererseits aber eine wichtige medizinische Information für die bevorstehende OP. Dabei kann es zu ungewollten heftigen Blutungen kommen, wenn man die Gerinnungsstörung nicht vorher berücksichtigt.“
Keine Meldepflicht bei Verdachtsfällen
Bei Verdacht auf Kindesmisshandlung haben Ärzte grundsätzlich keine Meldepflicht gegenüber Polizei oder Staatsanwaltschaft. Was auf den ersten Blick wie ein Schutz für mögliche Täter aussieht, hat einen Sinn, erklärt der Professor: „Gerade bei Kindern ist es wichtig, dass die regelmäßigen Untersuchungen bei Kinderärzten von den Eltern wahrgenommen werden. Wenn der Arzt bei jedem Verdacht gleich die Ermittlungsbehörden informiert, ist das Vertrauensverhältnis bei den Eltern dahin und sie bringen die Kinder gar nicht mehr in die Praxis. Das kann verheerende gesundheitliche Folgen haben und auch ein möglicher Missbrauch bleibt dann vielleicht jahrelang unentdeckt“. Gerade hier zeigt sich, wie wertvoll das vertrauliche Angebot des FoKoGi ist. In Verdachtsfällen können Ärzte die Rechtsmediziner quasi „hinter den Kulissen“ konsiliarisch entweder direkt hinzuziehen oder Verletzungen selbst durch Fotos oder Röntgenbilder dokumentieren und dies bei der Rechtsmedizin zur Überprüfung einreichen. Bestätigt sich der Verdacht, kann zunächst auch erstmal das Jugendamt eingeschaltet werden. „Wir hatten mal eine Familie mit mehreren Kindern und einem gesicherten Fall von körperlicher Misshandlung. Da haben wir dann gemeinsam mit dem Jugendamt und den Eltern vereinbart, dass alle Kinder ein Jahr lang regelmäßig von uns untersucht werden. Dabei konnten wir feststellen, dass es keine weiteren Misshandlungen gegeben hat, so können wir auch präventiv tätig werden.“
Beweise für Gewalt und Missbrauch müssen „gerichtsfest“ gesichert werden
Wichtig zu wissen: in der Rechtsmedizin werden Verletzungen nicht behandelt, sondern fachgerecht dokumentiert, hinsichtlich der Ursache beurteilt und archiviert. Im Archiv werden Fotos, Berichte, Röntgenbilder, sichergestellte Fingerabdrücke, Zahnabdrücke von Bisswunden aber beispielsweise nach Vergewaltigungen auch Körperflüssigkeiten, die etwa die DNA, also den genetischen Fingerabdruck eines mutmaßlichen Täters enthalten, aufbewahrt. Gerade in Fällen von häuslicher Gewalt, oftmals gegen Frauen, sind die Opfer aus Angst oder Scham oder auch weil sie trotz allem an der Beziehung zum Täter festhalten wollen, nicht sofort bereit, die Tat anzuzeigen. Mit Hilfe des Forensischen Konsils können sie aber zumindest die Folgen des Übergriffs vertraulich dokumentieren und aufbewahren lassen. Wenn sie sich dann später doch zu einer Anzeige entschließen, sind diese Beweise sowohl für polizeiliche Ermittlungen als auch für ein mögliches Gerichtverfahren gegen den mutmaßlichen Täter ein entscheidender Beitrag, damit ihnen Gerechtigkeit widerfährt.
Dafür müssen die erhobenen Beweise `gerichtsfest` sein, das heißt: „Sie müssen ganz konkrete Anforderungen erfüllen“, sagt Assistenzärztin Leila Malolepszy. „Es reicht eben beispielsweise nicht, einfach mal ein Foto von einer Verletzung zu machen, sondern hier muss immer ein Maßstab angelegt und mit im Bild sein, um das genaue Ausmaß erkennen und dokumentieren zu können. Auch bei Abstrichen nach sexuellem Missbrauch braucht es entsprechende Sachkunde, damit die so gesicherten Beweise nachher auch vor Gericht anerkannt werden.“ Da Gewaltopfer je nach Schwere und Ausmaß ihrer Verletzungen in vielen Fällen zunächst ein Krankenhaus aufsuchen, unterhält das FoKoGi in seinem Zuständigkeitsbereich zahlreiche Kooperationen mit Partnerambulanzen in verschiedenen Kliniken und Netzwerken von Limburg über Marburg und Fulda bis nach Kassel. Hier gibt es zudem noch eine eigene Zweigstelle. Durch regelmäßige Vorträge und Weiterbildungsangebote für die Ärztinnen und Ärzte der Netzwerkstandorte, sorgen die Rechtsmediziner dafür, dass das Wissen der Kolleginnen und Kollegen für eine fachgerechte Dokumentation vorhanden ist. Bei Sexualstraftaten wird die Arbeit des Frauennotrufes Frankfurt vom FoKoGi unterstützt. Malolepszy: „Wir haben außerdem einen Einsatzkoffer entwickelt mit forensischen Untersuchungsmaterialien, Anleitungen für Kollegen und Aufklärungsbögen für Gewaltopfer. Der steht in den angeschlossenen Ambulanzen und Kliniken zur Verfügung.“
Dass ihnen im Zuge ihrer wichtigen Arbeit viel Menschliches Leid begegnet, lässt den erfahrenen Institutsleiter und auch die junge Assistenzärztin nicht unberührt. Dettmeyer: „Es sind vor allem die Kinder, an die man denkt, die überlebenden Kinder bei denen die Gewalterfahrung ein Trauma bleibt, das seelische Wunden hinterlässt auch wenn die körperlichen längst verheilt sind.“ Malolepszy: „Oft ist die Aufgabe so herausfordernd, dass man nicht lange Zeit hat, darüber nachzudenken. Es hilft auch, hier im Team darüber zu reden, aber gewisse Fälle nimmt man dann doch mit nachhause.“
Was am Ende des Tages aber am meisten zählt ist das, was sie mit ihrer Arbeit erreichen: Aufklärung, Vorbeugung und die Wahrung der Chance auf Gerechtigkeit für Menschen, die Gewalt und Missbrauch erfahren mussten.
Außerhalb offizieller Ermittlungen, bei denen Polizei und Staatsanwaltschaft rechtsmedizinische Untersuchungen in Auftrag geben, ist das Angebot des FoKoGi für alle anderen Institutionen und Privatpersonen kostenfrei. Finanziert wird das Projekt durch das Hessische Sozialministerium. Wer das FoKoGi zu Rate ziehen will, kann das zu festen Öffnungszeiten entweder persönlich in den Räumen der Gießener Rechtsmedizin oder der Zweigstelle in Kassel. Anfragen sind aber auch telefonisch oder per Mail möglich. Alle Infos dazu findet man auf der Homepage unter: www.fokogi.de
Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) (https://www.ukgm.de/home.html) mit seinen 86 Kliniken und Instituten an den beiden Standorten Gießen und Marburg ist das drittgrößte Universitätsklinikum Deutschlands. Seit Februar 2006 trägt die RHÖN-KLINIKUM AG (https://www.rhoen-klinikum-ag.com/) zu 95 Prozent die Verantwortung als Betreiber dieses privatisierten Universitätsklinikums. www.ukgm.de
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