Kiel (ots) – Spätestens die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie dringend digitale Lösungen im Gesundheitswesen benötigt werden. Dafür hat die Politik in den letzten Jahren viele Gesetze auf den Weg gebracht. Doch häufig hakt es noch an der Umsetzung. „Die Digitalisierung des Gesundheitswesens birgt erhebliche Potenziale für eine gute qualitative, wirtschaftliche und gesundheitliche Versorgung. Doch die Potenziale werden derzeit nicht ausreichend gehoben. Wir müssen die Chancen endlich besser nutzen“, sagte Johannes Heß, alternierender AOK-Verwaltungsratsvorsitzender und Arbeitgebervertreter. Wie die digitale Gesundheitsversorgung in Schleswig-Holstein zukünftig noch besser gestaltet werden kann, diskutierte Heß heute zusammen mit weiteren namhaften Experten auf dem zweiten virtuellen AOK-DigiTalk der AOK-Selbstverwaltung.
Aktuelle Umfragen belegen, dass die Deutschen alles andere als Technikmuffel sind und auch für ihre Gesundheitsversorgung digitale Lösungen erwarten. Doch insbesondere in der digitalen Grundversorgung hinkt Deutschland im europäischen Vergleich immer noch hinterher, Sektorengrenzen im Gesundheitssystem sind noch lange nicht überwunden. Neben technischen Voraussetzungen – ob zu Hause oder in den Praxen oder Krankenhäusern – fehlen oftmals Zugänge, das Wissen und auch das Vertrauen auf Neues. Das bestätigt auch der Sachverständigenrat (SVR) zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. In seinem aktuellen Gut-achten weist dieser auf den dringenden Bedarf an strukturellen, informationstechno-logischen, organisatorischen und rechtlichen Verbesserungen im Hinblick auf Fehlerfreiheit und Effizienz in der Versorgung hin.
Datenschutz muss im Sinne des Patientenschutzes neu gedacht werden
„Digitalisierung wird immer noch als Mittel zum Zweck gesehen. Sie sollte aber immer so gestaltet werden, dass sie die Gesundheitsversorgung der Menschen verbessert, die sie nutzen“, sagte Prof. Dr. Wolfgang Greiner (Universität Bielefeld), stellvertretender Vorsitzender des SVR. Um die Digitalisierung des Gesundheitswesens optimal für das Patientenwohl zu nutzen, müsse die Debatte in Deutschland nach Auffassung von Greiner neu und anders geführt werden. „Der Datenschutz muss dazu im Sinne eines umfassenden Patientenschutzes neu gedacht werden. Er muss insbesondere mit dem Schutz von Leben und Gesundheit abgewogen und in einen sinnvollen Einklang gebracht werden“, so Greiner. Aller-dings sind noch deutliche Anstrengungen erforderlich, um einen echten medizinischen Nutzen für die Versorgung besonders in einem Flächenland wie Schleswig-Holstein zu ziehen.
Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Dr. Heiner Garg wies darauf hin, dass die Landesregierung den Versorgungssicherungsfonds aufgelegt habe, um die qualitative Weiterentwicklung der ambulanten, stationären und sektorenverbinden-den Versorgung zu beschleunigen und innovative Konzepte zu fördern. „Unser Ziel ist, eine flächendeckende und bedarfsgerechte Versorgung auszubauen. Bei vielen Projekten spielt auch die Digitalisierung eine wichtige Rolle, die wesentlich zur Überwindung der Sektorengrenzen beitragen kann. Klar ist aber auch, dass eine flächendeckende digitale Infrastruktur Grundvoraussetzung für telemedizinische Anwendungen und für die Weiterentwicklung der sektorenverbindenden Versorgung ist. Daher bedarf es auch im technischen Bereich weiterer Entwicklungen, um die unterschiedlichen Bereiche der Versorgung besser zu vernetzen“, so Garg.
Für den alternierenden AOK-Verwaltungsratsvorsitzenden und Versichertenvertreter Lutz Schäffer ist wichtig, dass bei allen Chancen und Vorzügen der Digitalisierung nicht vergessen werden dürfe, dass sie in erster Linie auf die Versorgung und somit auf die Versicherten ausgerichtet sein müsse. „Digitale Angebote dürfen nicht pauschal übergestülpt werden. Wir müssen die Menschen bei diesen Veränderungen mitnehmen und erklären, dass sie selbst entscheiden dürfen, in welchem Tempo sie sich auf neue Versorgungsformen einlassen“, so Schäffer. Dann könne es gelingen, mit Hilfe der Digitalisierung Versorgungsprobleme insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen zu verbessern. Das zeigten eindrucksvoll die Angebote zur telemedizinischen Versorgung. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Breitbandausbau endlich forciert werde als Basis für ein digitalisiertes Gesundheitssystem.
AOK NORDWEST leistet Pionierarbeit – erfolgreiche Digitalisierungsprojekte
Erste erfolgreiche Digitalisierungsprojekte für eine patientenzentrierte Versorgung hat die AOK NORDWEST in Schleswig-Holstein bereits mit einigen Partnern auf den Weg gebracht und damit Pionierarbeit geleistet. Dazu gehört auch das vom Innovationsfonds geförderte Projekt der Virtuellen Diabetesambulanz für Kinder und Jugendliche (ViDiKi) am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH). „Wir haben die Videosprechstunde als neue Beratungsform für Kinder mit Typ-1-Diabetes erfolgreich erprobt. Die Therapiezufriedenheit der Eltern stieg, die Belastung der Mütter nahm erheblich ab und über eine längere Anwendung verbesserte sich die Stoffwechsellage der Kinder mit Typ-1-Diabetes deutlich. Die Speicherung der digitalisierten Therapiedaten in cloudbasierter Software hat uns in der Versorgung der Patienten deutlich vorangebracht und eine telemedizinische Betreuung ermöglicht“, sagte Dr. Simone von Sengbusch, Oberärztin in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin und Diabetologin des UKSH, Campus Lübeck.
Für den UKSH-Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Jens Scholz zeigt dieses positive Beispiel, wie Versorgung künftig noch besser digital gestaltet werden kann. „Die Universitätsmedizin ist der Motor, der den Patientinnen und Patienten die Chance zu einer noch wirksameren digitalen Medizin eröffnet. Die Zeit des Aufbruchs für ein daten- und plattformgetriebenes Netzwerk, das einen wirklichen Mehrwert für die Krankenversorgung bietet, ist jetzt gekommen: Alle Technologien sind vorhanden und der politische Wille ist eindeutig. Besitzstandswahrung hilft keinem Patienten. Wir können digitale Anwendungen und Algorithmen nutzen, um Medizin und Pflege von Routinetätigkeiten zu entlasten – für mehr Zeit am Patienten.“
Kosten der Digitalisierung nicht allein dem Beitragszahler aufbürden
Der alternierende AOK-Verwaltungsratsvorsitzende und Arbeitgebervertreter Johannes Heß mahnte, dass die Kosten der Digitalisierung nicht weiterhin einseitig auf den Schultern der Beitragszahler der gesetzlichen Krankversicherung lasten dürfen. Als Beispiele nannte er die Finanzierung des Ausbaus der Telematik-Infrastruktur und die Anbindung ihrer Teilnehmer. Dazu gehörte auch die Ausstattung der Arztpraxen mit Konnektoren. Wie groß die Unwucht der derzeitigen Lastenverteilung der Digitalisierung ist, zeigt sich auch bei der Etablierung der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs). Hier wurde das Prinzip der Wirtschaftlichkeit übergangen. Preissteigerungen von Apps um 400 bis 600 Prozent im Vergleich zum Selbstzahlermarkt waren die Folge. „Dass Investitionen getätigt werden müssen, steht außer Frage. Doch vorher muss zwingend geklärt werden, ob sie auch ihren Zweck nachhaltig erfüllen und die Kosten dafür gerecht verteilt sind“, so Heß.
Auch Dr. Monika Schliffke, Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein, betonte: „Die Digitalisierung in der Medizin ist nicht nur eine Medaille mit einer positiven und einer negativen Seite. Sie gleicht mehr einem Zauberwürfel, in dem jedes Teil mehrere Seiten hat, die in vielen Einzelschritten zu einem harmonischen Ganzen komponiert werden müssen. Es mangelt noch an einer Zieldefinition, die Chancen und Risiken einordnet und die es ermöglicht, Menschen nicht allein als Datenlieferanten, sondern weiterhin als soziale Wesen zu sehen, die im Erkrankungsfall besonders schutzbedürftig sind.“
Lutz Schäffer, alternierender AOK-Verwaltungsratsvorsitzender und Versichertenvertreter, forderte alle Akteure auf, eine patientenzentrierte, sektorenüber-greifende medizinische Versorgung von morgen gemeinsam mitzugestalten und ganzheitliche Lösungen zu schaffen, um ein Versorgungsmanagement aus einer Hand zu gewährleisten. „Projekte wie die elektronische Patientenakte (ePA) und das elektronische Rezept (eRezept) bieten hier beste Chancen für eine bessere Versorgung der Patienten.“
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