München (ots) –
Die gute Nachricht lautet: Für Kinder und Jugendliche, die mit der vor allem genetisch übertragenen Neurodiversität leben, sind die Integrationschancen sehr hoch. Etwa ein Prozent der deutschen Bevölkerung ist von der Störung betroffen, bei Erwachsenen ist aufgrund der erst seit Anfang der 1990er Jahren laufenden Diagnostik das Ausmaß nicht ausreichend bekannt. Es gibt ein breites Spektrum, das auch Autismus genannt wird, und daher sind die Therapieansätze vielseitig. Entgegen der landläufigen Meinung sind Betroffene nicht stets minder-intelligent wie beim Kanner-Autismus, gerade bei der Asperger-Form geht eine normale bis hohe Intelligenz einher. Diese beiden Formen sind bereits frühkindlich erkennbar, beim atypischen Autismus lässt sich das erst in höherem Kindesalter feststellen.
Ein Beispiel: Die Diagnose Asperger-Syndrom erhielt Christine P. erst mit 27 Jahren. Für sie war die Diagnose eine große Erleichterung, denn erstmals konnte sie Antworten auf viele Fragen in ihrem Leben finden. Auch der Kontakt mit ihrem Umfeld wurde einfacher, da sich nun viele ihrer Verhaltensweisen erklären ließen, zum Beispiel das sehr penible Beharren auf vereinbarte Uhrzeiten. Sie prägt ein starkes Bedürfnis nach Struktur, Routine und Ritualen.
Inzwischen richtet sie ihr Leben so ein, dass es nicht nur erträglich, sondern erfüllt ist. Seit der Asperger-Diagnose weiß sie um ihre Auffälligkeiten. Partys und Disco-Besuche etwa bedeuten nur Stress und überfordern sie völlig. Und ohne feste Strukturen könnte sie auch heute ihren Alltag kaum bewältigen.
In der Arbeit braucht sie wenig Pausen und kaum Kollegenkontakt. Ein Nebeneinander mehrerer Tätigkeiten verwirrt sie. Sie kann mehr leisten, wenn sie Aufgaben strukturiert und nacheinander erledigt.
Ebenso ist sie sehr aufmerksam für Details. Für ihr Medizinstudium, für das sie sehr viele Fakten lernen musste, war das sehr hilfreich. Dafür fällt es ihr oft schwer, übergeordnete Zusammenhänge zu erkennen. Deshalb liest sie keine Romane und schaut keine Filme, in denen viele Personen auftreten.
Heute ist es ihr Ziel, auch andere Betroffene zu ermutigen, sich dem Leben mit allen seinen Herausforderungen zu stellen. Deshalb hält sie Vorträge und schreibt Bücher über Autismus.*
Kennzeichen von Neurodiversität
Menschen mit Autismus haben eine andere neurologische Art (neurodevelopmental disorder). Hinzu kommen biologische Faktoren, manchmal auch beim Ablauf der Geburt. Ihr Gehirn nimmt genetisch bedingt äußere Reize anders wahr, manchmal stärker und manchmal schwächer. Eine weitere Bezeichnung ist daher „Reizfilterschwäche“. Für Unbetroffene lässt sich dies am einfachsten so beschreiben: Betroffene sind wie Trichter, in die alles hineinfällt, ohne dass es Abzweigungen für nicht brauchbare Eindrücke gibt. Wenn ein Betroffener einen Tag in einer Großstadt verbringt, beispielsweise viele Geschäfte und ein lautes Restaurant besucht hat, kann er zum Tagesabschluss nicht mehr ins Kino gehen, wenn er das Programm bis dahin überhaupt ertragen hat. Alle Reize werden von allen Sinnen viel stärker wahrgenommen. Daher gibt es bei etlichen Betroffenen das Verhalten des totalen Stopps: Sie entziehen sich dann komplett der Alltagssituation, weil sie nicht mehr die eigene Energie aufbringen, die Situation zu beherrschen und nach den erwünschten Verhaltensregeln zu funktionieren.
Außerdem haben Betroffene eine andere Körperwahrnehmung. Sie nehmen beispielsweise häufig Gegenstände, die im Weg stehen, nicht oder zu spät wahr. Daher stoßen sie sich im Alltag oft an. Sie bewegen sich anders, haben teilweise sich wiederholende Bewegungen (Wedeln oder Wiegen) oder stellen sich anders hin. Die Handschrift ist anders, weil feinmotorische Ausführungen nicht wie bei Nichtbetroffenen ablaufen.
Die Einschätzung von sozialen Situationen fällt ihnen meist nicht leicht. Sie haben eher den Blick fürs Detail als fürs große Ganze. Das führt auch zu spannenden Hobbies oder Interessen, viele gehen außergewöhnlichen Interessen nach.
Für das Umfeld ist es sehr wichtig zu wissen, dass Routinen und immergleiche Abläufe den Alltag von Betroffenen stabilisiert. Flexibilität und unvermutete Änderungen sind große Herausforderungen, die Stress auslösen und bis zum Abbruch von sozialen Situationen führen können.
Die Kontaktfähigkeit von Menschen mit Neurodiversität ist dementsprechend teilweise eingeschränkt. Sie können oft auch anderen nicht oder nicht lange in die Augen sehen, sie wissen auch teilweise nicht, dass dies in der sozialen Interaktion wichtig wäre.
Warum eine Diagnose wichtig ist
Für Kinder und Jugendliche bedeutet ein Erkennen der neurologischen Andersartigkeit eine ganz große Chance. Denn ihr Umfeld hat nun die Möglichkeit, das andere Verhalten erklärt zu bekommen und kann mehr Verständnis entwickeln sowie Rücksicht nehmen. In der Schule wird aufgrund gesetzlichen Schutzes ein Nachteilsausgleich gewährt. Mittlerweile gibt es dies auch im Studium. Im Berufsleben kann es eine Begleitperson geben oder Einzelfallhelfer:innen. Denn oft haben Betroffene Schwierigkeiten mit administrativen Aufgaben oder der Vereinbarung von Terminen. Der Umgang mit Geld oder das Alleineleben fällt einigen schwer.
Unterstützung im Alltag
Für Betroffene, die nicht allein leben können, gibt es Wohngruppenangebote. Auch sind ambulante Angebote, bei denen auch das familiäre oder soziale Umfeld begleitet wird, möglich. Inzwischen gibt es auch Assistenzhunde, die Menschen mit Autismus im Alltag einen sozialen Puffer bieten oder mit ihrem Gespür den Halter vor für Betroffene unangenehme Menschen warnen können. Leider ist dies noch nicht als Kassenleistung anerkannt.
Ein Integrationsfachdienst kann im Falle einer Schwerbehinderung in Anspruch genommen werden. Diese helfen bei der Arbeitssuche oder im Betriebsleben beratend. Ein Schwerbehindertenausweis bietet im Alltag Entlastungen.
Diagnose und Psychotherapie
Für Kinder ist beim ersten Verdacht eine Diagnose durch den Kinder- und Jugendpsychiater sehr empfohlen. Je eher das Umfeld sich auf die Besonderheit des Kindes einstellt, desto mehr weiß es sich geborgen und in seiner besonderen Art angenommen. Es kann sich so aus einer sicheren inneren Position entwickeln und genießt durch den Nachteilsausgleich in der Schule einen besonderen Schutz.
Bei Erwachsenen ist die Diagnose deutlich komplexer, weil viele im Laufe des bisherigen Lebens mühsam von Nicht-Betroffenen abgeschaute Verhaltensweisen die Neurodiversität überdecken („Masking“) können. Oft gehen Angststörungen oder Depressionen mit einher, weil der Alltag für viele von ihnen unglaublich anstrengend oder verstörend ist, da mit ihnen nicht richtig umgegangen wird. Für Erwachsene, die sich diagnostizieren lassen wollen, empfiehlt sich die Suche nach einem Experten, auch wenn die Wartezeiten lang sind. Das finale Ergebnis kann das eigene Leben dann deutlich erleichtern.
Sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene ist eine Psychotherapie sehr wichtig, um im Alltagsleben Stützung und konkrete Begleitung zu erhalten.
*Quelle des Fallbeispiels: Dem Artikel „Oft wünschte ich, die Menschen wären nummeriert“ von Cithia Briseño, erschienen auf spiegel.de am 27.01.2013 entlehnt.
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Quelle: ots