München (ots) –
Im Juli 2023 fand in München die 100. Jahrestagung der Vereinigung der Bayerischen Chirurgie e.V. statt. Ein Leitgedanke dieses Kongresses war, dass medizinische Entscheidungen nur aufgrund wissenschaftlich-medizinischer Grundlagen getroffen und nicht durch ökonomische oder strukturelle Bedingungen in die eine oder andere Richtung getrieben werden sollten. Neben vielen spezifischen chirurgischen Fachvorträgen wurde im Vorfeld des Kongresses auch über grundlegende Fragen der Prävention und des Rauchstopps gesprochen.
Jugendliches Konsumverhalten und Abhängigkeitspotential
Besonderer Fokus liegt dabei immer auf dem Jugendschutz. So publizierten Arnaud et al vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in 2023, dass das größte Missbrauchspotenzial für 12 bis 18-jährige in Deutschland unverändert beim Alkohol liegt. Etwa 40% haben in den letzten 12 Monaten Alkohol konsumiert, 9,6% Verbrennungszigaretten, 6,6% Cannabis und 6,2% E-Zigaretten. Wird nicht nur der gelegentliche Konsum analysiert, sondern das Abhängigkeitspotential ausgewertet, verkleinert sich der Unterschied zwischen Alkohol und Verbrennungszigaretten deutlich. So geben 3,1% der befragten Jugendlichen im persönlichen Interview an, abhängig vom Alkohol zu sein, 1,7% von Verbrennungszigaretten, 0,8% von Cannabis und nur 0,1 % von E-Zigaretten. Die Daten zeigen, dass bei Menschen im Alter von 12 bis 18 Jahren die E-Zigarettennutzung von allen vier untersuchten Konsumverhalten das mit Abstand niedrigste Abhängigkeitspotential aufweist. Die Daten zeigen auch, dass das Risiko für abhängiges Zigarettenrauchen 8-fach höher ist als für eine abhängige E-Zigarettennutzung.
Die öffentliche Debatte und der Fokus von Medizin und Politik sollten sich am tatsächlichen Bedarf orientieren, der bei Jugendlichen in Deutschland primär in der Prävention des Konsums von Alkohol und Verbrennungszigaretten liegt. Gleichzeitig muss der jugendliche Konsum von Cannabis und E-Zigaretten weiter beobachtet werden, allerdings ohne besonders gefährdete erwachsene Langzeitkonsumenten aus dem Blick zu verlieren.
Modellierungsstudie zeigt Vorteile der E-Zigarette
Die Öffentlichkeit und viele gesundheitspolitische Verantwortliche sind in Bezug auf den Nutzen und die Gefahren von E-Zigaretten geteilter Meinung. Skeptiker betonen den möglichen Einstieg in den Nikotinkonsum oder befürchten gar den Anstieg des Rauchens bei Kindern und mögliche Gesundheitsrisiken für Erwachsene. Befürworter halten die Nutzung von E-Zigaretten („Dampfen“) für weit weniger gefährlich als das Zigarettenrauchen und glauben, dass E-Zigaretten den Ausstieg aus dem Zigarettenrauchen bei Erwachsenen erleichtern.
Die Gesamtsicht auf beide Aspekte ist schwierig. Eine Annäherung können Modellierungsstudien bieten. Schon 2019 haben Warner und Mendez vom Department of Health Management and Policy der School of Public Health an der University of Michigan, versucht, einen Gesamteffekt abzuschätzen (Warner et al 2019). Mithilfe eines dynamischen Modells, das den Raucherstatus der erwachsenen US-Bevölkerung und die rauchbedingten Todesfälle im Laufe der Zeit verfolgt, simulierten sie die Auswirkungen des durch das Dampfen induzierten Beginns und Stopps des Zigarettenrauchens auf die eingesparten oder verlorenen Lebensjahre bis zum Jahr 2070. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der potenzielle Gewinn an Lebensjahren infolge des durch Dampfen induzierten Rauchstopps den potenziellen Verlust an Lebensjahren infolge des durch Dampfen induzierten Rauchbeginns deutlich übersteigt. Dabei gewinnt die Gesamtbevölkerung im ungünstigsten simulierten Fall immer noch über 580.000 Lebensjahre.
Dies ist umso bemerkenswerter, weil es keine überzeugenden Hinweise darauf gibt, dass die Nutzung von E-Zigaretten überhaupt den Einstieg ins Zigarettenrauchen fördert (Sun et al. 2023). So ist in England die Prävalenz des E-Zigarettenkonsums in der jugendlichen Bevölkerung nicht mit einem wesentlichen Anstieg oder Rückgang der Prävalenz des Rauchens verbunden (Beard et al. 2022).
Raucherentwöhnung und Prävention – kein Widerspruch
Diese Analyse zeigt, dass der positive Effekt von E-Zigaretten auf die öffentliche Gesundheit aufgrund ihres Potenzials, den Rauchausstieg bei Erwachsenen zu fördern, das negative Gesundheitsrisiko übersteigt, das sich daraus ergibt, dass sie möglicherweise die Zahl der jugendlichen Rauchanfänger erhöhen. Die Öffentlichkeitsarbeit und die Politik sollten sich weiterhin bemühen, die Exposition junger Menschen gegenüber allen Nikotin- und Tabakerzeugnissen zu verringern. Wenn die Ziele des Schutzes von Kindern und der Unterstützung erwachsener Raucher miteinander in Konflikt geraten, müssen Fachleute des öffentlichen Gesundheitswesens die praktischen Auswirkungen in beide Richtungen sorgfältig abwägen.
Angesichts der Debatte über E-Zigaretten und die Verringerung von Gesundheitsschäden durch Tabak- und Nikotinprodukte im Allgemeinen, legt diese Studie nahe, dass der Unterstützung erwachsener Raucher bei der Raucherentwöhnung eine viel höhere Priorität eingeräumt werden muss, als es bisher geschieht.Zudem wird erläutert, dass die erheblichen Risiken des Zigarettenrauchens aufgrund jahrzehntelanger epidemiologischer Forschung durchaus bekannt sind. Anderseits könnte es noch Jahrzehnte dauern, bis die vollen gesundheitlichen Auswirkungen – falls vorhanden – des Dampfens bekannt sind. In der Zwischenzeit bleibt es bei einer Zahl von 127.000 Rauchertoten in Deutschland pro Jahr.
Literatur:
Arnaud N, Wartberg L, Simon-Kutscher K. et al. Prevalence of substance use disorders and associations with mindfulness, impulsive personality traits and psychopathological symptoms in a representative sample of adolescents in Germany. Eur Child Adolesc Psychiatry 2023. doi:10.1007/s00787-023-02173-0
Warner KE, Mendez D. E-cigarettes: Comparing the Possible Risks of Increasing Smoking Initiation with the Potential Benefits of Increasing Smoking Cessation. Nicotine Tob Res2019;21:41-47. doi:10.1093/ntr/nty062
Beard E, Brown J, Shahab L. Association of quarterly prevalence of e-cigarette use with ever regular smoking among young adults in England: a time-series analysis between 2007 and 2018. Addiction 2022;117:2283-2293. doi:10.1111/add.15838
Sun R, Méndez D, Warner KE. Association of Electronic Cigarette Use by US Adolescents With Subsequent Persistent Cigarette Smoking. JAMA Netw Open. 2023;6(3):e234885. doi:10.1001/jamanetworkopen.2023.4885
Pressekontakt:
Prof. Dr. Knut Kröger, Thrombose Initiative
info@thrombose-initiative.de
Original-Content von: Thrombose Initiative e.V., übermittelt durch news aktuell
Quelle: ots